Kriegsende in Neukirchen-Vluyn vom 3./4. März 1945

10.02.2021

Am Freitag, dem 2. März 1945, waren die amerikanischen Einheiten so weit vorgerückt, dass sie die letzte Phase ihres Kampfes um den Rhein beginnen konnten, die Eroberung des Altkreises Moers. Dadurch geriet auch Neukirchen-Vluyn ins Kriegsgeschehen.

Schon seit den ersten Septembertagen 1944 wälzte sich ein Strom von feldgrauen deutschen Soldaten, von Zivilisten und Zwangsarbeiterkolonnen vor der anrollenden Kriegsfront von Westen her in Richtung Rhein. Das Gebiet um Neukirchen-Vluyn und seine Bevölkerung standen unter Dauerbeschuss der alliierten Tiefflieger. Zechendirektor Dr. Mund von der Niederberg AG und seine Frau wurden während einer Dienstfahrt mit dem Auto von einem solchen Tieffliegerangriff überrascht. Beide verloren dabei ihr Leben. Wegen der Tiefflieger verlegten die deutschen Soldaten ihren Rückzug sogar in die Dunkelheit der Nacht.

Gezielt waren die Luftwaffeneinsätze auf das Waldgebiet um Vluyn. Denn es blieb den Alliierten nicht verborgen Bloemersheimer Wald und Vluynbusch ein einziges Heeres- und Waffenlager der deutschen Wehrmacht geworden waren. Die Wälder und Buschwerke dienten als Auffangsraum für die zurückflutenden deutschen Truppenverbände, die sich auf den umliegenden Höfen und in Dorfschulgebäuden einquartierten.

Die höheren deutschen Militärstäbe logierten standesgemäß auf Schloß Bloemersheim und im Haus Leyenburg. Das Oberkommando West unter Generalfeldmarschall Walter Model war in den Anstaltsgebäuden des Erziehungsvereins einquartiert. Ab Januar 1945 wurden das Andreas-Bräm-Haus und die Stursberg-Schule von einem Feldlazarett beansprucht. Die Textilfabrik Springen in Vluyn wurde zum Marketenderlager umfunktioniert, Wohnhäuser und Privatwohnungen mussten für weitere Einquartierungen herhalten.

Die Zechenleitung von Niederberg hielt seit längerer Zeit über den Direktionsassistenzen Gottfried Pleines engen telefonischen Kontakt zum Wehrbezirkskommando. Er war es auch, der am Freitag, dem 2. März, telefonisch von dort den Befehl erhielt, die Zeche unverzüglich in die Luft sprengen zu lassen. Es sollte verhindert werden, dass sie den Alliierten in die Hände fiel. Am Abend erst wurde der Direktor des Bergwerks, Wilhelm Reuter, informiert und dieser entschied: „Niederberg wird nicht gesprengt!“

In den Amtsstuben des Neukirchen-Vluyner Rathauses herrschte vor dem Hintergrund des Geschützdonners eine besondere emsige Geschäftigkeit. Amtsbürgermeister Neumann legte ein „Verzeichnis der wichtigen Akten“ an, „welche nicht in Feindhand gelangen dürfen und deshalb rechtzeitig vorher rechtsrheinisch sicherzustellen oder zu vernichten sind“. Diese wichtigen Aktenbestände werden seitdem vermisst.

Wie im öffentlichen Leben, so ging man auch im privaten Leben auf Spurensuche besonderer Art. Insignien und Weltanschauungswerke der NS-Zeit waren nun dringend zu beseitigen. „Alles, was an Hitler erinnerte, wurde möglichst verbrannt. Unser Backofen auf dem Hof, der sonst für das wöchentliche Weißbrot und Schwarzbrot zum Backen genutzt wurde, schluckte alles: Vaters SA-Uniform, Hitler-Bilder, Uniformen der Hitlerjugend von unseren Jungs, dazu Papiere und Ausweise,“ berichtet Maria Immendorff vom Neukirchener Sourenhof.

Um 12.30 Uhr des 3. März 1945, einem sonnigen Samstagmittag, marschierten Teile der 84. US-Division von Krefeld aus los in Richtung Homberger Rheinbrücke. Sie nutzten die Verbindungsstraße von Krefeld über Niep nach Moers und erreichten gegen 17 Uhr die Ortschaft Niep. Kaum hatten sie Niep verlassen, erhielten sie Beschuss aus dem Hinterhalt. Diese Gegenwehr schalteten sie in einem kurzen Feuergefecht aus. Die amerikanische Einheit erreichte, Neukirchen-Vluyn nur südlich streifend, kurz vor Mitternacht die Moerser Stadtgrenze.

(© Museumsarchiv Neukirchen-Vluyn, Shermans der 5. US-Panzerdivison an der südwestlichen Grenze zum Altkreis Moers.)

Am selben Tag tauchten um 18 Uhr die ersten amerikanischen Panzer in Neufeld auf. Beim  Vormarsch der Amerikaner durch Neufeld wurde auch Haus Leyenburg beschossen, welches keine weiße Fahne gehisst hatte. Die dortige Scheune wurde in Brand gesetzt. Zeitgleich erreichten die amerikanischen Panzertruppen den Hoschenhof in Vluyn und brachten sofort ihre Artillerie in Stellung. Um 21 Uhr begannen sie von dort aus mit ihrer Beschießung in Richtung Moers. Der erste amerikanische Sherman-Panzer, der in Neufeld einrollte, schoss zudem Salven von Leuchtspurgranaten in die Luft. Die Aufklärungsflugzeuge konnten auf diese Art und Weise seinen Standort auch in der Dämmerung erkennen. Die Amerikaner bauten noch in derselben Nacht südöstlich vom Hoschenhof eine Start- und Landebahn aus Stahlplatten für ihre Aufklärungsflugzeuge. Einige Tage später errichteten sie eine solche auch auf dem Gelände zwischen Andreas-Bräm-Haus und Heckrath-Hof in Neukirchen. Am Sonntag, dem 4. März 1945, verließ die 5. US-Panzerdivision Vluyn.

Weitere amerikanische Verbände mit Panzerwagen rückten auf der Schaephuysener Straße nach Vluyn vor. Alle gefangenen Soldaten, Zivilisten und die Schlossbewohner wurden auf dem Schlosshof von Bloemersheim unter schwere Bewachung gestellt.

In Neukirchen wurden die ersten amerikanischen Panzerspähwagen am Samstag um 17 Uhr gesehen. Aus den Wohnstuben hingen schon die weißen Fahnen. Die Hausbewohner suchten meist Sicherheit in den Kellern. Die amerikanischen Soldaten nahmen diejenigen, die sich auf die Straße gewagt hatten, fest und sperrten sie ein, zuerst im Keller der Neukirchener Sparkasse, dann im Haus Elim. Als die amerikanischen Panzer in die Dorfmitte vordrangen, sollen ihnen NS-Bürgermeister Neumann und Pfarrer Gustorff mit einer weißen Fahne entgegengekommen sein. Das Neukirchener Bürgermeisteramt war ebenfalls weiß beflaggt.

Die amerikanischen Soldaten untersuchten am Tag danach die Gebäude und Wohnungen in Neukirchen und besetzten sie größtenteils. Die ausquartierten Hof- und Siedlungsbewohner fanden in der Haarbeck-Schule ihr Auffanglager. Auf dem Schuldach war ein großes Rotes Kreuz gemalt, was bedeutete, dass das Gebäude vor Angriffen geschützt war.

Auf der Schachtanlage Niederberg sorgte am Wochenende des 3./4. März nur noch eine kleine Kolonne für den Betrieb der Wasserpumpe unter Tage. Die Direkton blieb ebenfalls an diesem Wochenende auf der Schachtanlage. Am frühen Sonntagmorgen rollten amerikanischen Jeeps und Panzer an das Zechentor heran. Direktor Reuter, die Betriebsführer und der Direktionsassistent kamen ihnen entgegen. Die Amerikaner besetzten die Schachtanlage und internierten die Werksleitung eine Woche lang auf der Zeche, bis alle notwendigen Maßnahmen zur Wiederaufnahme der beim Einmarsch eingestellten Kohlenförderung getroffen waren.

In den zwei Tagen des 3. und 4. März 1945 wurde Neukirchen-Vluyn durch amerikanische Truppenverbände militärisch besetzt. Als historische Befreiung war dies Ereignis damals allgemein nicht empfunden oder erlebt worden. Beim Hissen der weißen Fahnen dürfte neben der Erleichterung über das Kriegsende das Gefühl der Niederlage und die Sorge vor der nahen Zukunft überwogen haben. Die letzten Versuche der örtlichen Amtsträger und Parteigrößen, die Spuren der nazibraunen Vergangenheit zu verwischen, deuteten jedoch schon auf die gewaltige historische Zäsur dieses Wochenendes hin: erst durch die militärische Niederlage der deutschen Wehrmacht kam es zur Befreiung von der NS-Gewaltherrschaft.

Ulrich Kemper

Kriegsschäden:

(© Museumsarchiv Neukirchen-Vluyn, Das Wohnhaus an der Kreuzstraße wurde am 7. August 1942 durch Sprengbomben zerstört, 4 Tote.)

(© Museumsarchiv Neukirchen-Vluyn, Kinder posieren für ein Foto in den Ruinen eines Wohnhauses, 1942.)

 

 

 

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