Die Industrialisierung und die vergessenen Kinder

15.09.2021

Das Deutschland im 19. Jahrhundert unterschied sich in einigen Facetten stark vom heutigen Staat. Vorrangig natürlich darin, dass es „den“ deutschen Staat noch gar nicht gab, sondern dessen Gründung erst nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 vollzogen wurde. Ein weiterer großer Unterschied zur Gegenwart: Die Lebensrealität von Kindern, die nicht ferner von der heutigen Zeit entfernt sein könnte.


Im Rahmen der Industrialisierung wurde die Kinderarbeit in Deutschland nicht erfunden, aber sie wurde perfektioniert. In der Landwirtschaft war es völlig normal für den Nachwuchs, bei den anfallenden Arbeiten zu helfen – schließlich blieb es in der Familie. Die Industrialisierung sorgte hier für eine Verlagerung und Anpassung dieser Tradition. Kinder kamen als kostengünstige Arbeiter in den neuen Manufakturen und späteren Fabriken zum Einsatz. Dies betraf schon achtjährige Kinder, an eine schulische Ausbildung war nicht zu denken.

 

Doch 1839 änderten sich die Bedingungen zum Teil, als in Preußen Regularien zur Kinderarbeit eingeführt wurden, die es den unter neunjährigen verbot zu arbeiten. Kinder von zehn bis 16 Jahren durften nun „nur“ noch 10 Stunden am Tag arbeiten. Als Begründung für diese Maßnahme wurde angeführt, dass Kinder aus industriellen Regionen bei der Wehrtauglichkeitsprüfung sehr oft durchfielen, weil sie körperlich gebrochen waren. Dies lag jedoch nicht nur an der fordernden Arbeit in den Fabriken; die Lebensumstände dieser Kinder waren katastrophal. Sie lebten, gerade im Rhein-Ruhr-Bereich, oft auf der Straße und konnten sich überhaupt nicht vernünftig ernähren, insbesondere wenn auch die Eltern arbeiten mussten. Auch am Niederrhein existierte dieses Problem – doch es gab jemanden, der sich ihm entgegenstellte: Pfarrer Andreas Bräm und seine Frau Wilhelmine.

(Eheleute Bräm, Copyright Museum NV)

In einer Zeit, in der es möglich war, seine Kinder an Waisenhäuser zu verkaufen, setzte er mit seinem „Verein zur Erziehung armer, verlassener und verwahrloster Kinder in Familien“ einen Gegenpol und Lichtblick. Über die Jahre fanden Hunderte von Kindern ein neues Zuhause in den vom Verein ausgesuchten Pflegefamilien. Die Philosophie von Pfarrer Bräm war, dass nur das Konstrukt der Familie diesen Kindern Stabilität geben konnte. Doch die Kinder konnten oft gar nicht sofort in den Pflegefamilien untergebracht werden.

 

Die Gründung des Erziehungsvereins fiel auf den 15. Dezember 1845 und seine Aufgabe bestand vor allem darin, die verwahrlosten Kinder „familienfähig“ zu machen. Dies übernahm Wilhelmine Bräm, denn die ersten fünf Jahre mussten die Kinder im Pfarrhaus in Neukirchen versorgt werden. Zudem klappte es nicht in jedem Fall mit der Pflegefamilie. Teilweise mussten die Kinder also vom Ehepaar Bräm wieder zurückgenommen werden. Erst in den Folgejahren gab es die Möglichkeit, diese Kinder in einem der ersten Heime des Erziehungsvereins besser zu betreuen, zumal ein Hauselternpaar als Heimleitung eingesetzt wurde.

 

Zudem begann um 1850 das Projekt „Haustöchter“, das für Andreas und Wilhelmine Bräm eine Herzensangelegenheit war. Nachdem Mädchen ihre achtjährige Schulbildung beendet hatten, wurden sie im Pfarrhaus aufgenommen. Sie bekamen erweiterten Unterricht von Pfarrer Bräm, während seine Frau Ihnen die Haushaltsführung beibrachte. Über die Jahre waren es um die 80 „Haustöchter“, die auch später noch Kontakt zum Ehepaar Bräm hielten.

 

Heute sind die Aufgaben des Neukirchener Erziehungsvereins um einiges umfassender. Als differenzierter Hilfeverbund wirkt er in den Bereichen diakonischer Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, aber auch mit Behinderten- und Altenhilfe, mit der Ausbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die verschiedenen diakonischen Arbeitsfelder und nicht zuletzt im verlegerischen Bereich – doch alles entstand Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Idee, verwahrlosten und verlassenen Kindern eine bessere Zukunft zu schenken.

 

Bastian Wiesemeyer

(Das alte Pfarrhaus in Neukirchen, um 1880)

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