100 Jahre Arbeiterwohlfahrt

16.02.2022

Die Entstehung der Arbeiterwohlfahrt vor 100 Jahren

Sie ist untrennbar mit dem Namen Marie Juchacz verbunden, die 1919 als sozialdemokratische Abgeordnete in die Verfassunggebenden Nationalversammlung gewählt wurde und während der gesamten Weimarer Republik Mitglied im Reichstag war.  Für Marie Juchacz stand fest, dass das  Massenelend in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg nur mit einer modernen Wohlfahrtspflege zu bekämpfen war und die diskrimierende  Armenpflege des Kaiserreichs durch eine neue Fürsorgegesetzgebung ersetzt werden musste.

Foto: Marie Juchacz (1879-1956), © privat

Am 13. Dezember 1919 erhielt sie die  Zustimmng des Parteiausschusses der SPD zur Gründung der AWO und wurde Vorsitzende im geschäftsführenden Ausschuss. Rückblickend sagte sie: „Mir war nichts so selbstverständich wie diese Gründung. ... Man hatte ja niemals von der sozialen Bereitschaft, die in der Arbeiterbewegung vorhanden war, Gebrauch gemacht. ... Nun galt es 1919, an der Schwelle einer neuen Zeit, auf der Vergangenheit aufzubauen und zugleich Neues, Zukünftiges zu entwickeln.“[i] Um das notwendige Fachwissen für soziale Arbeit zu vermitteln, richtete die AWO eine Wohlfahrtsschule ein und schuf den modernen Beruf des Sozialarbeiters/ der Sozialarbeiterin. Eine große Zahl ehrenamtlicher MitarbeiterInnen - 1932 waren es 135000 - stand der Awo zur Seite und  übernahm Aufgaben  im Kinderschutz, in der Jugendhilfe, in Volksküchen, Mütterberatungsstellen und Werkstätten für Erwerbslose.

Wenige Wochen nach der Machtübertragung an Adolf Hitler wurde die AWO zwangsweise aufgelöst. Vermögen, Heime und Einrichtungen wurden für die NS-Volkswohlfahrt beschlagnahmt. Dem Versuch die AWO in die NS Volkswohlfahrt zu überführen, entzogen sich allerorten die Mitglieder  der Organisation. Führende Männer und Frauen der AWO verließen Deutschland, um der Verhaftung zu entgehen, so auch  Marie Juchacz. Nach ihrer Rückkehr  aus dem amerikanischen Exil (1949) blieb sie der AWO bis zu ihrem Tod eine hochgeschätzte Beraterin.

 

Neubeginn der AWO nach dem Zweiten Weltkrieg - auch in Neukirchen-Vluyn

Verfolgung, Verbot und Krieg  konnten die Ideen der AWO nicht zerstören. Ihr Wiederaufbau und Ausbau erfolgten in erstaunlich kurzer Zeit. Helfer und Helferinnen kümmerten sich um Flüchtlinge, Heimkehrer, alte Menschen und verwaiste Kinder. Sie versuchten die große materielle Not zu lindern - auch in Neukirchen-Vluyn.

Schon 1921 hatte sich im damals noch selbstständigen Neukirchen ein AWO-Ortsausschuss gebildet, der an die örtliche SPD angebunden war. Er hatte die Armen der Gemeinde mit Nahrung und Kleidungsstücken unterstützt. Erste Vorsitzende im Ortsausschuss  war die Neukirchenerin Frau Gräser (Vorname unbekannt) gewesen.

Im Zuge der Auflösung der AWO  im Jahre 1933 sind  alle Unterlagen der örtlichen Organisation verloren gegangen. Man weiß bis heute nicht, wo die Dokumente geblieben sind.

Gleich nach dem Krieg, in der zweiten Jahreshälfte 1945, fanden sich Frauen und Männer in Neukirchen-Vluyn zusammen, die die Arbeit der AWO wieder aufnahmen. Zum Gründungsvorstand im Januar 1946 gehörten der spätere Bürgermeister Oskar Kühnel.

Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Oskar Kühnel, 1965 und fünf Frauen, darunter Edith Döring. Sie sagte im Rahmen eines Interviews: „Ich erinnere mich vor allem an die Fischtonnen, die Oskar (Kühnel) in den Nachkriegsmonaten immer zum Fürmannheck trug und dort an die Ärmsten verteilt hat, auch an die Kommunisten. Tja, irgendwann hat er auch mich angesprochen, ob ich mithelfen wollte, Der Mann hat uns alle mit seiner Überzeugungskraft in irgendwelche Aufgaben gedrängt...“[ii]

Vor allem auf Oskar Kühnels Initiative hin wurde 1950/51 ein eigenes Haus  für den AWO- Ortsverein an der Max-von-Schenkendorf-Straße gebaut. Die Kosten betrugen damals insgesamt 96.000DM, eine relativ niedrige Summe,  auch deshalb „weil über 20 AWO-Mitglieder, überwiegend Bergleute, in über 5000 Stunden frewillig Arbeit geleistet hatten“, wie es in der Broschüre zum 50-jährigen Jubiläum heißt.

Foto: AWO-Begegnungsstätte Oskar-Kühnel-Haus an der Max von Schenkendorf-Straße,Abriss 2019, © privat

Aktuell gibt es in NV eine ganze Reihe von Beratungs- und Betreuungsangeboten. Die älteste auch heute noch bestehende soziale Einrichtung stammt aus dem Jahre 1971: Es  ist das Willy-Könen-Seniorenzentrum am Fürmannsheck, benannt nach dem Bundestagsabgeordneten und Vorstandsmitglied des AWO-Bezirks Niederrhein, Willy Könen.

Schon drei Jahre bevor das Heimmitwirkungsgesetz 1976 verabschiedet wurde, gab es im Seniorenzentrum - ganz im Sinne der demokratischen Tradition der AWO - einen Heimbeirat. Dieser setzte sich z.B. für einen rollstuhlgerechten Übergang vom Haus zum Garten ein. Als die Zahl der Bewohner, die eine intensive Betreuung benötigten, erheblich zunahm, wurde 1990 eine komplette Modernisierung des Hauses vorgenommen.

Gegenwärtig leben hier 92 Bewohner/innen, ihre Verweildauer ist kürzer geworden, bei vielen ist es die letzte Lebensphase. Gerade deshalb ist für Martina Giesen, die jetzige Leiterin des Seniorenheims, die palliative Versorgung von hoher Bedeutung.  Hierbei tragen „sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses durch ihre professionellle und persönliche Kompetenz“ zu einer „ganzheitlichen Kultur“ bei, so Frau Giesen[iii]. Angesichts des Fachkräftemangels in der Pflege bildet sie mit ihrem Team eigene Fachkräfte aus. In diesem Jahr (2019) werden zwei Auszubildende übernommen, ein großer Vorteil, „denn sie kennen ja unseren Betrieb von Anfang an“, sagte Frau Giesen im Gespräch mit mir.  Anschließend wurde ich durchs das Haus geführt, in dem meine Mutter ihre letzten Lebensjahre verbracht hat.

Dankbar erinnere ich mich, wie ihr während ihres Aufenthalts im Willy-Könen-Seniorenzentrum ein Stück Selbstbestimmung in einem für sie wichtigen Bereich ermöglicht wurde - auf der Basis von Freiheit und Toleranz, zwei von insgesamt fünf Leitgedanken der AWO.

Foto: Denkmalsentwurf für Marie Juchacz, Mehringplatz Berlin 2017, mit den Leitgedanken der AWO: Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Toleranz, Solidarität; © privat

Krista Horbrügger

 

[i] Interview mit Marie Juchacz auf der Reichskonferenz in Solingen 1949

[ii] Broschüre zum 50-jährigen Jubiläum der AWO Neukirchen-Vluyn, S. 20.

[iii] Leben mit Herz. Die Zeitschrift der Arbeiterwohlfahrt in Neukirchen-Vluyn, Juni 2018,   S.23

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